Fr
09
Aug
2024
Zu sehen sind Zeichnungen und Radierungen aus den 60ern und 70ern. Eröffnung am Donnerstag, 19. September 2024, 18 - 21 Uhr. Läuft bis 2. November 2024. Website Galerie Brockstedt
Text aus: Pit Morell, Worpswede, Nachrichten aus dem Moor, Balthasar Avon Verlag Worpswede, 1984, S. 41:
Von anderer Wirklichkeit.
Warum sich festlegen auf Torfstecher, pflügende Bauern. Das ist doch nur ein Teil dessen, was ich vorhabe, zu verarbeiten. Was mich bewegte? Ich verwendete dieses und jenes aus meinem Leben
und meiner Anschauungsweise. Ich ging durch die Geschehnisse durch. Ging durch die Vorräume, Hauptsäle, Nebenkammern, Durchdrang die Asphaltdecke der Straßen in und um Worpswede, die wieder
stellenweise die Backsteingitter hervorkommen lassen, wie jedes Frühjahr.
Arbeite mich durch die Hälfte von Jarks Reetdach, durch die Milchkannen. Blieb am Wegrand stehen. Schaute zurück auf einen auffliegenden Bussard.
Der sensenschärfende Mensch am Wiesenrand machte mich einen Moment nachdenklich. Glücklich wiederum über alles Gewesene sah ich ihm bei seiner jeweils in dieser Jahreszeit zu verrichtenden Arbeit zu. 365 Tage zuvor hatte er das Gleiche getan und ich hatte das Gleiche gedacht. Es war, als sei es erst gestern gewesen. Ihn zu sehen bedeutete Glück. Er stand da, auf seiner zu ihm gehörenden Wiese, den Acker mit halbhohem Getreide hinter sich. Später wandelte ich das gesehene um. Sah ich ihn in Hümme, Hofgeismar, Gottsbüren oder wo?
Mi
03
Jan
2024
Wir lesen im Einführungstext eines Artikels der Ausgabe vom 4. Januar '24: »Ich halte ihnen den Unfug vor« Reise nach »Humi«: Zum 85. Geburtstag des Künstlers und Dichters Pit Morell. Von Helmut Donat." Zum Original. Weiter heisst es dort:
"Der Maler und Poet Pit Morell, der heute seinen 85. Geburtstag begeht, lebt seit fast 60 Jahren mit seiner Frau Rosmarie in Worpswede. Seine dem Phantastischen Realismus zuzuordnenden Bilder,
Zeichnungen, Erzählungen und Gedichte wirken wie aus einer anderen Welt – und doch ist er mitten in unserer.
Morell wurde 1939 in Kassel geboren, sein Vater war für die Firma Siemens tätig und malte gern kleine Aquarelle. Die Kindheitsjahre sind für den Jungen »Zeiten des Glücks, der Zufriedenheit, der
Liebe« – bis der Krieg alles zerstörte. Im Herbst 1943 verheerten Bomben und Feuersbrünste Kassel. Noch heute, wenn Sirenen heulen, »richten sich«, sagt er, »meine Nackenhaare auf, und im Kopf
beginnt es zu schmerzen, die Rückerinnerung setzt sich in Gang«.
Der Verlust der Kindheit, des vertrauten Lebensraumes, wurde zum
Trauma, jede spätere Erfahrung von Gewalt oder Unglück verbindet er mit
dem frühkindlichen Schock. Die Familie findet Obdach bei Verwandten im
nahe gelegenen Reinhardswald, und hier, im alten Dorf Gottsbüren, beginntfür Pit, wie er selbst schreibt, »ein neues und schönes Kapitel: HUMI.« Aber
noch ist er sich dessen nicht bewusst.
1946 ein weiterer Schicksalsschlag: der Tod der Mutter. Fortan, so sein
exzellenter Biograph Bernd Küster, »stellt sich die Frage der eigenen
Identität dem Heranwachsenden nie in einer gewöhnlichen Weise«. Nichts
mehr ist normal, alles verläuft ohne erkennbaren Sinn, ist neu zu ordnen, zu
erschaffen und zu erfahren. Rückhalt geben der Vater und dessen Familie.
Nach einer kaufmännischen Lehre und dem Graphikstudium in Kassel lebt
Morell 1960 bis 1963 in Bremen, danach als Künstler in Worpswede.
Auf welchem Terrain auch immer Pit Morell sich über Jahrzehnte hinweg als
Maler, Grafiker, Radierer, Zeichner, Illustrator, Bildhauer, Lyriker oder
Erzähler bewegt hat, er ist stets bei sich geblieben – ungeachtet aller
Erfolge. Rückblickend sagt er, dass sein künstlerisches Werk auf die
eigenen Grenzerfahrungen zurückgeht. Der realen Apokalypse setzt er eine
imaginäre und artifizielle Welt entgegen: »Ich erlebte die Schrecknisse, den
Unsinn des Krieges, den Wahnsinn und das Chaos der Irren, der
sogenannten Zivilisation. Und daraus resultiert mein Werk, mit Hinweisen
und Möglichkeiten der Besserung, hin zu Träumen, die einmal Wirklichkeit
werden könnten, oder mit Hinweisen auf neues Schreckliches mit
Mahnungen und Warnungen ›Haltet ein!‹ Ich halte ihnen den Unfug vor. Als
Spiegel. Eine traumatisierungsbedingte Verarbeitung. Es sind auch
Aufzeichnungen aus dem Unterbewussten.«
Morell geht Wichtigtuern aus dem Weg. Dem Worpsweder Kunstbetrieb
steht er nicht abweisend gegenüber, mischt sich aber nicht ein. Ein
Jahrmarkt der Eitelkeiten interessiert ihn nicht. Seinen 80. Geburtstag vor
fünf Jahren haben die Worpsweder Museen »verschlafen«, ihm nicht
einmal gratuliert.
Pit Morell gehört zu den herausragenden Erscheinungen der norddeutschen Kunst des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Es beruht auf einer großen erzählerischen
und geichnerischen Begabung und lässt sich, so Küster, »partiell dem Surrealismus zuordnen«. Doch sei es »weitgehend eigenständig und beispiellos geblieben (…). Heute überragt es als ein aus
literarischen und zeichnerischen Ambitionen gleichermaßen entstandener Monolith die deutsche Kulturlandschaft.«
Ab 1951 lebte Morell in Hümme im Kreis Hofgeismar. Hier lernte er den
Bildhauer und Künstler Wilhelm Hugues kennen, der ihm zum frühen
Vorbild wurde und dem er zeitlebens verbunden blieb. Wie Hugues
verzichtet er auf jede Art von Anschauungsvorlage, will sich nicht von der
Unmittelbarkeit des Linienverlaufs ablenken oder unterbrechen lassen. In
seinem »Book of Humi« erweist sich Morell als großer Virtuose mit dem
Zeichenstift und eigenwilliger Dichter. Inzwischen liegen fast 100 Bände vor,
enthaltend weit mehr als 250 Zeichnungen, Collagen und freien Blättern.
Insgesamt beläuft sich das Werk auf 22.000 Einzelseiten. Die
Phantasiestücke erinnern in der Tat an den Surrealismus der 1920er Jahre,doch nichts davon ist schwelgend. Sie sind eine geschlossene und unentdeckte Dokumentation des Phantastischen, die
ihresgleichen sucht.
»Humi« ist überall dort, »wo sich das Große im Kleinen zu erkennen gibt«.
Pit Morell ist ein heiterer, dem Leben zugewandter und hilfsbereiter
Mensch. Er legt Wert auf Qualität, Aussagekraft und Wahrhaftigkeit. Jüngst
hat er das neue Buch »Puppenquäler – Skurrile Geschichten« von Christian
Hannig illustriert. Es ist eine Mischung aus »Gothic Novel«, »Horror Vacui«,
Psychothriller und Science Fiction, die an Edgar Allan Poe erinnert. Morell,
ein großer Freund der schwarzen Linie, hat aus seinem »Humi«, in dem
Pittoreskes, Bizarres und Wundersames sich die Hand reichen, 40
Zeichnungen beigesteuert, die den skurrilen Erzählungen Flügel verleihen.
Möge »Humi« noch lange leben!"
Literatur
Bernd Küster, The Book of Humi – Leben und Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell, Bremen 2020 – Christian Hannig, Puppenquäler – Skurrile Geschichten. Mit 40 Zeichnungen von Pit Morell,
Bremen 2024
(beide Donat Verlag)
Im Original lesen
So
31
Dez
2023
Im Bremer Donat Verlag ist dieses Buch von Christian Hannig erschienen. Pit Morell steuerte Zeichnungen bei.
Wir lesen im Klappentext: "Die Corona-Pandemie hat manches Dunkle hervorgetrieben. Christian Hannig, bis dahin mit dem Rad in entlegensten Teilen der Welt unterwegs, ist regelrecht „ausgebremst“ worden. Fortan reiste er ins Innere von Phantasien, wo sich ihm Geschichten, makabre Begebenheiten und wundersame Gestalten aufdrängten: eine Mischung aus „Gothic Novel“, „Horror Vacui“, Psychothriller und Science-Fiction, die an Edgar Allan Poe erinnern. Der Worpsweder Künstler Pit Morell, ein großer Freund der schwarzen Linie, hat sich in sein legendäres Land „Humi“ begeben, in dem Selt.samkeiten und Skurrilitäten sich die Hand reichen: Zeichnungen voller Eigenheiten, die dem phantastischen Realismus der Erzählungen Flügel und eine besondere Note verleihen."
Sa
16
Dez
2023
Die Bitburger Brauerei bat ausgewählte Gäste des Kampener Bar-Betreibers, ihre Erinnerungen in einem firmeneigenen Heft zu Papier zu bringen. Darunter Prominente aus Politik,
Wirtschaft, Medien und Kunst. Das "Karlchen" war angesagter Treffunkt, auch Galerie, vielleicht das inoffizielle Kulturzentrum der Insel. Hier ein Text von Pit Morell. Das Original-Heft ist
erhalten.
Karlchen Rosenzweig, wurde geboren in Westerland/Sylt, sein Vater war Schornsteinfegermeister. Er lebte zeitweilig in Berlin und später in Bonn, wo er auch jeweils eine Bar betrieben hatte.
Einige Gäste folgten ihm quasi von dort in die Insel-Saison" Hier der abgedruckte Text:
Pit Morell: Karlchen, wie hinter einem Deich
Gern besuchten Rosmarie und ich Karlchen, wenn möglich nach Mitternacht. Oft kamen wir aber auch zu anderer Zeit: Wenn Karlchen zeichnete. Karlchen konnte zeichnen und Drinks mischen. Wir
sprachen nie darüber, wie man's macht. Planters Punch war unser Drink. Den mixte uns Karlchen auch bei seinem Besuch in Worpswede im Strohdachhaus im Moor. Noch heute ist ein Fleck auf unserem
alten ovalen Tisch vom Jamaika Rum.
In Kampen sprachen wir über Walfänger oder über William Turner, mit Verehrung. Turner, der auf einem Pony durchs Gebirge ritt, in der Tasche kleine Bücher, in die hinein er zeichnete und an Ort
und stelle aquarellierte. Nach 188 Jahren kann man nun in einem Turner Katalog die Regentropfen sehen, die Spuren des Wetters damals auf dem Aquarell "Pat up a mountain".
Karlchen liebte Kunst. Er mochte die Künstler. Er selbst war einer. Im Jahr 1986 kam ich mit meiner Frau aus Tokio zurück. Wir hatten hunderttausend Köpfe gesehen. Ich las im Atelier in
Worpswede in alten Zeitungen. In der F.A.Z. registrierte ich erschrocken den Nachruf auf Karlchen. (Anm.: Der Link ist nicht aufzufinden, in die DIE ZEIT hieß es "Der Tod des Barkeepers" und "Abschied: Kampen ohne Karlchen")
Jetzt dachte man besonders an die vielen schönen Erlebnisse bei und mit Karlchen. Er hatte viele Menschen gesehen. Viele kannte er gut. Jahr für Jahr waren sie seine Gäste. So kannte er auch
viele Menschenschicksale. So musste er wohl auch das ganze Boshafte im Menschen gesehen haben. Es kam ja ständig angebrandet. Hinter der Bartheke stand er wie hinter einem Deich, Schutz
findend. Oft fragte ich mich: Wie konnte ein Mensch sich so viele Namen merken?
Ich sehe die Figur, den Mann, das Wesen Karlchen genau vor mir. Dieses bestimmte Lächeln, die roten Bäckchen, die leuchtenden Augen, die sich flink bewegten. Seine ihm eigene Körperhaltung, die
am eindringlichsten war, wenn er seinen Oberkörper bis zu diesem Punkt gedreht hatte, von dem aus musste er mit Anstrengung den Augapfel soweit drehen, bis nichts mehr weiter ging. Hier schienen
mir seine Ohren als Hilfsorgan tätig zu werden, um von diesem Standpunkt aus jemanden anzuschauen und ihm zu folgen. Diese Augen-Blicke sind uns unvergesslich.
Was uns erstaunte war auch: Der Physiognomien-Sammler. Per Kamera. Ich sehe immer die Bilder! Wenn er die Zigarrenkisten mit seinen Gäste-Fotos herüberreichte oder wenn er uns unsere
"Jahresfotos" gab. Seine Begleitkommentare: "Kennst Du den?" Oder: "Das ist auch eine ganz Liebe!" Bald rückte er die rote Lampe auf der Bartheke zurecht, um jemandem das richtige Licht zu
geben.
Karlchen als Künstlerkollege war oft Gesprächspartner, wenn es um Malerei, Grafik, Literatur ging. Wir hatten gemeinsame Bekannte, die mit mir in Kassel studierten.: A. Waldschmidt, A.
Schindehütte. Dann die anderen "Rixdorfer"
J. Vennekamp, U. Bremer, die heute als Künstlerpersönlichkeiten ihren Namen haben.
Ich erinnere mich noch an einen Brief mit schönen Illuminationen von Horst Janssen, den Karlchen zu Janssens Ausstellung in die Bar gesandt bekam und den mir Karlchen stolz zeigte. Neben Figuren
und Text war ein schöner Rasierapparat und eine Rasierklinge gezeichnet, typische Janssen-Ideen.
Karlchen als Zeichner: Ich weiss als Maler/Zeichner vieles über das Sichzurückziehen ins Nichtstun und Nichtsdenken. Manche alte Frauen können es: Nur dazitzen. Hunde können es, Katzen. Männer
müssen Holz hacken, vielleicht. Ich zeichne dann.
Unsere Zivilisation hat die Tendenz zur Neurose. Man verausgabt sich. Ausgelaugt sein und totale Strapazierung des "Nervenkorsetts" als Folge des Chinchs, in dem sich die Menschen befinden mit
den Dingen. Beim Zeichnen entspannt man. Es ist Rückbesinnung. Eine Art Meditation, Kräftesammeln. Zeichnen ist bereits Glücksgefühl. Ein Ausstieg aus dem, normalen "Getue".
Karlchen wusste davon und benutzte es in mußevollen Minuten. Es war ihm eine Technik, die er eben mal nebenbei verwenden konnte, die "Batterie" aufzuladen. Oder er benutzte sie als Spiel.
In seinen mühelos und einfach hingeschwungenen Kugelschreiber-Zeichnungen, die so automatisch und surrealistisch gemacht waren, hatte er seinen Stil gefunden.
Mit diesem Handwerk konnte er Gedanken versinnbildlichen, aber auch seine Kräfte messen.und wachsen lassen, die ihm von den "Köpfen" und "Torsi" in der Bar abgezogen worden waren. Hier konnte er
sie sich auf so schöne und wunderbare Art wiederholen!
Wie seine Fotografien gab er diese "Erfindungen" weiter. Er verschenkte sie. Sie sind klein auf kleine Quittungsblöcke gemacht oder groß auf kostbarem Aquarellpapier. Mit schwarzem Kugelschreiber
meist und wenig – meist einer – Farbe.
Denjenigen, denen er sie schenkte, machte er ein schönes Andenken an gute Abende und Nächte.
Einmal – an einem dieser langen violett-rosa-grünlich-blass-blauen Juliabenden mit Licht im Nordwesten bis Mitternacht – kamen Rosmarie und ich in die Bar. Man konnte um 11.00 Uhr noch auf der
Straße Zeitung lesen. Karlchen fragte oft: "Was hast Du denn heute Schönes gemacht?" Er wusste, dass ich täglich ein Bisschen skizziere. Kleine Einfälle, spontan oder draussen Gesehenes. An
diesem Tag hatte ich Zeichnungen von Wolken gemacht. Am Strand sitzend beobachtete ich an diesem Tag, der so klar war wie selten, die seltsam niedrig vorbeiziehenden Figuren, die mir in den
Wolken erschienen. Ich zeigte Karlchen den Block über die Theke: Es waren Tiere, Menschen, Wesen, stelzende Figuren, Köpfe, die sich küssten, Mützen, eine liegende Große und eine. liegende Kleine
u.s.f. Datum, Uhrzeit hinten auf dem Klappdeckel. Wir schlürften den ersten Planters, es war ein extra kräftiger Jamaika Rum daraufgelegt. Da sagte Karlchen, sich die Wolken ansehend, ganz
plötzlich und er strahlte, blinzelte durch seine Augenschlitze, seine Backen glühten rot und er zeigte dabei seine kleinen Perlenzähnchenreihen: "Jaaaa!!! Die habe ich auch gesehen!"
Wir werden Karlchen nicht vergessen. Jeder, der ihm begegnet ist, trägt sein Bild im Kopf.