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Mi

03

Jan

2024

Gelesen in Junge Welt zum 85.: »Ich halte ihnen den Unfug vor«

Wir lesen im Einführungstext eines Artikels der Ausgabe vom 4. Januar '24: »Ich halte ihnen den Unfug vor« Reise nach »Humi«: Zum 85. Geburtstag des Künstlers und Dichters Pit Morell. Von Helmut Donat." Zum Original. Weiter heisst es dort:

Eine Art Traumaverarbeitung: Pit Morell mit eigenen Werken
Eine Art Traumaverarbeitung: Pit Morell mit eigenen Werken

"Der Maler und Poet Pit Morell, der heute seinen 85. Geburtstag begeht, lebt seit fast 60 Jahren mit seiner Frau Rosmarie in Worpswede. Seine dem Phantastischen Realismus zuzuordnenden Bilder, Zeichnungen, Erzählungen und Gedichte wirken wie aus einer anderen Welt – und doch ist er mitten in unserer.

Morell wurde 1939 in Kassel geboren, sein Vater war für die Firma Siemens tätig und malte gern kleine Aquarelle. Die Kindheitsjahre sind für den Jungen »Zeiten des Glücks, der Zufriedenheit, der Liebe« – bis der Krieg alles zerstörte. Im Herbst 1943 verheerten Bomben und Feuersbrünste Kassel. Noch heute, wenn Sirenen heulen, »richten sich«, sagt er, »meine Nackenhaare auf, und im Kopf beginnt es zu schmerzen, die Rückerinnerung setzt sich in Gang«.

Der Verlust der Kindheit, des vertrauten Lebensraumes, wurde zum
Trauma, jede spätere Erfahrung von Gewalt oder Unglück verbindet er mit

dem frühkindlichen Schock. Die Familie findet Obdach bei Verwandten im

nahe gelegenen Reinhardswald, und hier, im alten Dorf Gottsbüren, beginntfür Pit, wie er selbst schreibt, »ein neues und schönes Kapitel: HUMI.« Aber

noch ist er sich dessen nicht bewusst.

1946 ein weiterer Schicksalsschlag: der Tod der Mutter. Fortan, so sein

exzellenter Biograph Bernd Küster, »stellt sich die Frage der eigenen

Identität dem Heranwachsenden nie in einer gewöhnlichen Weise«. Nichts

mehr ist normal, alles verläuft ohne erkennbaren Sinn, ist neu zu ordnen, zu

erschaffen und zu erfahren. Rückhalt geben der Vater und dessen Familie.

Nach einer kaufmännischen Lehre und dem Graphikstudium in Kassel lebt

Morell 1960 bis 1963 in Bremen, danach als Künstler in Worpswede.

Auf welchem Terrain auch immer Pit Morell sich über Jahrzehnte hinweg als

Maler, Grafiker, Radierer, Zeichner, Illustrator, Bildhauer, Lyriker oder

Erzähler bewegt hat, er ist stets bei sich geblieben – ungeachtet aller

Erfolge. Rückblickend sagt er, dass sein künstlerisches Werk auf die

eigenen Grenzerfahrungen zurückgeht. Der realen Apokalypse setzt er eine

imaginäre und artifizielle Welt entgegen: »Ich erlebte die Schrecknisse, den

Unsinn des Krieges, den Wahnsinn und das Chaos der Irren, der

sogenannten Zivilisation. Und daraus resultiert mein Werk, mit Hinweisen

und Möglichkeiten der Besserung, hin zu Träumen, die einmal Wirklichkeit

werden könnten, oder mit Hinweisen auf neues Schreckliches mit

Mahnungen und Warnungen ›Haltet ein!‹ Ich halte ihnen den Unfug vor. Als

Spiegel. Eine traumatisierungsbedingte Verarbeitung. Es sind auch

Aufzeichnungen aus dem Unterbewussten.«

Morell geht Wichtigtuern aus dem Weg. Dem Worpsweder Kunstbetrieb

steht er nicht abweisend gegenüber, mischt sich aber nicht ein. Ein

Jahrmarkt der Eitelkeiten interessiert ihn nicht. Seinen 80. Geburtstag vor

fünf Jahren haben die Worpsweder Museen »verschlafen«, ihm nicht

einmal gratuliert.

Pit Morell gehört zu den herausragenden Erscheinungen der  norddeutschen Kunst des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Es beruht auf einer großen erzählerischen und geichnerischen Begabung und lässt sich, so Küster, »partiell dem Surrealismus zuordnen«. Doch sei es »weitgehend eigenständig und beispiellos geblieben (…). Heute überragt es als ein aus literarischen und zeichnerischen Ambitionen gleichermaßen entstandener Monolith die deutsche Kulturlandschaft.«

Ab 1951 lebte Morell in Hümme im Kreis Hofgeismar. Hier lernte er den

Bildhauer und Künstler Wilhelm Hugues kennen, der ihm zum frühen

Vorbild wurde und dem er zeitlebens verbunden blieb. Wie Hugues

verzichtet er auf jede Art von Anschauungsvorlage, will sich nicht von der

Unmittelbarkeit des Linienverlaufs ablenken oder unterbrechen lassen. In

seinem »Book of Humi« erweist sich Morell als großer Virtuose mit dem

Zeichenstift und eigenwilliger Dichter. Inzwischen liegen fast 100 Bände vor,

enthaltend weit mehr als 250 Zeichnungen, Collagen und freien Blättern.

Insgesamt beläuft sich das Werk auf 22.000 Einzelseiten. Die

Phantasiestücke erinnern in der Tat an den Surrealismus der 1920er Jahre,doch nichts davon ist schwelgend. Sie sind eine geschlossene und unentdeckte Dokumentation des Phantastischen, die ihresgleichen sucht.

»Humi« ist überall dort, »wo sich das Große im Kleinen zu erkennen gibt«.

Pit Morell ist ein heiterer, dem Leben zugewandter und hilfsbereiter

Mensch. Er legt Wert auf Qualität, Aussagekraft und Wahrhaftigkeit. Jüngst

hat er das neue Buch »Puppenquäler – Skurrile Geschichten« von Christian

Hannig illustriert. Es ist eine Mischung aus »Gothic Novel«, »Horror Vacui«,

Psychothriller und Science Fiction, die an Edgar Allan Poe erinnert. Morell,

ein großer Freund der schwarzen Linie, hat aus seinem »Humi«, in dem

Pittoreskes, Bizarres und Wundersames sich die Hand reichen, 40

Zeichnungen beigesteuert, die den skurrilen Erzählungen Flügel verleihen.

Möge »Humi« noch lange leben!"

Literatur

Bernd Küster, The Book of Humi – Leben und Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell, Bremen 2020 – Christian Hannig, Puppenquäler – Skurrile Geschichten. Mit 40 Zeichnungen von Pit Morell, Bremen 2024

(beide Donat Verlag)

Im Original lesen

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So

31

Dez

2023

Puppenquäler: Skurrile Geschichten

Im Bremer Donat Verlag ist dieses Buch von Christian Hannig erschienen. Pit Morell steuerte Zeichnungen bei.

Wir lesen im Klappentext: "Die Corona-Pandemie hat manches Dunkle hervorgetrieben. Christian Hannig, bis dahin mit dem Rad in entlegensten Teilen der Welt unterwegs, ist regelrecht „ausgebremst“ worden. Fortan reiste er ins Innere von Phantasien, wo sich ihm Geschichten, makabre Begebenheiten und wundersame Gestalten aufdrängten: eine Mischung aus „Gothic Novel“, „Horror Vacui“, Psychothriller und Science-Fiction, die an Edgar Allan Poe erinnern. Der Worpsweder Künstler Pit Morell, ein großer Freund der schwarzen Linie, hat sich in sein legendäres Land „Humi“ begeben, in dem Selt.samkeiten und Skurrilitäten sich die Hand reichen: Zeichnungen voller Eigenheiten, die dem phantastischen Realismus der Erzählungen Flügel und eine besondere Note verleihen."

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Sa

16

Dez

2023

Über "Karlchen" Rosenzweig in Kampen/Sylt

Die Bitburger Brauerei bat ausgewählte Gäste des Kampener Bar-Betreibers, ihre Erinnerungen in einem firmeneigenen Heft zu Papier zu bringen. Darunter Prominente aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kunst. Das "Karlchen" war angesagter Treffunkt, auch Galerie, vielleicht das inoffizielle Kulturzentrum der Insel. Hier ein Text von Pit Morell. Das Original-Heft ist erhalten.
Karlchen Rosenzweig, wurde geboren in Westerland/Sylt, sein Vater war Schornsteinfegermeister. Er lebte zeitweilig in Berlin und später in Bonn, wo er auch jeweils eine Bar betrieben hatte. Einige Gäste folgten ihm quasi von dort  in die Insel-Saison" Hier der abgedruckte Text:

Pit Morell: Karlchen, wie hinter einem Deich

Gern besuchten Rosmarie und ich Karlchen, wenn möglich nach Mitternacht. Oft kamen wir aber auch zu anderer Zeit: Wenn Karlchen zeichnete. Karlchen konnte zeichnen und Drinks mischen. Wir sprachen nie darüber, wie man's macht. Planters Punch war unser Drink. Den mixte uns Karlchen auch bei seinem Besuch in Worpswede im Strohdachhaus im Moor. Noch heute ist ein Fleck auf unserem alten ovalen Tisch vom Jamaika Rum.

In Kampen sprachen wir über Walfänger oder über William Turner, mit Verehrung. Turner, der auf einem Pony durchs Gebirge ritt, in der Tasche kleine Bücher, in die hinein er zeichnete und an Ort und stelle aquarellierte. Nach 188 Jahren kann man nun in einem Turner Katalog die Regentropfen sehen, die Spuren des Wetters damals auf dem Aquarell "Pat up a mountain".

Karlchen liebte Kunst. Er mochte die Künstler. Er selbst war einer. Im Jahr 1986 kam ich mit meiner Frau aus Tokio zurück. Wir hatten hunderttausend Köpfe gesehen. Ich las im Atelier in Worpswede in alten Zeitungen. In der F.A.Z. registrierte ich erschrocken den Nachruf auf Karlchen. (Anm.: Der Link ist nicht aufzufinden, in die DIE ZEIT hieß es "Der Tod des Barkeepers" und "Abschied: Kampen ohne Karlchen")

Jetzt dachte man besonders an die vielen schönen Erlebnisse bei und mit Karlchen. Er hatte viele Menschen gesehen. Viele kannte er gut. Jahr für Jahr waren sie seine Gäste. So kannte er auch viele Menschenschicksale. So musste er wohl auch das ganze Boshafte im Menschen gesehen haben. Es kam ja  ständig angebrandet. Hinter der Bartheke stand er wie hinter einem Deich, Schutz findend. Oft fragte ich mich: Wie konnte ein Mensch sich so viele Namen merken?

Ich sehe die Figur, den Mann, das Wesen Karlchen genau vor mir. Dieses bestimmte Lächeln, die roten Bäckchen, die leuchtenden Augen, die sich flink bewegten. Seine ihm eigene Körperhaltung, die am eindringlichsten war, wenn er seinen Oberkörper bis zu diesem Punkt gedreht hatte, von dem aus musste er mit Anstrengung den Augapfel soweit drehen, bis nichts mehr weiter ging. Hier schienen mir seine Ohren als Hilfsorgan tätig zu werden, um von diesem Standpunkt aus jemanden anzuschauen und ihm zu folgen. Diese Augen-Blicke sind uns unvergesslich. 

 

Was uns erstaunte war auch: Der Physiognomien-Sammler. Per Kamera. Ich sehe immer die Bilder! Wenn er die Zigarrenkisten mit seinen Gäste-Fotos herüberreichte oder wenn er uns unsere "Jahresfotos" gab. Seine Begleitkommentare: "Kennst Du den?" Oder: "Das ist auch eine ganz Liebe!" Bald rückte er die rote Lampe auf der Bartheke zurecht, um jemandem das richtige Licht zu geben.

Karlchen als Künstlerkollege war oft Gesprächspartner, wenn es um Malerei, Grafik, Literatur ging. Wir hatten gemeinsame Bekannte, die mit mir in Kassel studierten.: A. Waldschmidt, A. Schindehütte. Dann die anderen "Rixdorfer" J. Vennekamp, U. Bremer, die heute als Künstlerpersönlichkeiten ihren Namen haben.

Ich erinnere mich noch an einen Brief mit schönen Illuminationen von Horst Janssen, den Karlchen zu Janssens Ausstellung in die Bar gesandt bekam und den mir Karlchen stolz zeigte. Neben Figuren und Text war ein schöner Rasierapparat und eine Rasierklinge gezeichnet, typische Janssen-Ideen.

Karlchen als Zeichner: Ich weiss als Maler/Zeichner vieles über das Sichzurückziehen ins Nichtstun und Nichtsdenken. Manche alte Frauen können es: Nur dazitzen. Hunde können es, Katzen. Männer müssen Holz hacken, vielleicht. Ich zeichne dann.

Unsere Zivilisation hat die Tendenz zur Neurose. Man verausgabt sich. Ausgelaugt sein und totale Strapazierung des "Nervenkorsetts" als Folge des Chinchs, in dem sich die Menschen befinden mit den Dingen. Beim Zeichnen entspannt man. Es ist Rückbesinnung. Eine Art Meditation, Kräftesammeln. Zeichnen ist bereits Glücksgefühl. Ein Ausstieg aus dem, normalen "Getue".

Karlchen wusste davon und benutzte es in mußevollen Minuten. Es war ihm eine Technik, die er eben mal nebenbei verwenden konnte, die "Batterie"  aufzuladen. Oder er benutzte sie als Spiel. In seinen mühelos und einfach hingeschwungenen Kugelschreiber-Zeichnungen, die so automatisch und surrealistisch gemacht waren, hatte er seinen Stil gefunden.

Mit diesem Handwerk konnte er Gedanken versinnbildlichen, aber auch seine Kräfte messen.und wachsen lassen, die ihm von den "Köpfen" und "Torsi" in der Bar abgezogen worden waren. Hier konnte er sie sich auf so schöne und wunderbare Art wiederholen!

 

Wie seine Fotografien gab er diese "Erfindungen" weiter. Er verschenkte sie. Sie sind klein auf kleine Quittungsblöcke gemacht oder groß auf kostbarem Aquarellpapier. Mit schwarzem Kugelschreiber meist und wenig – meist  einer – Farbe.

Denjenigen, denen er sie schenkte, machte er ein schönes Andenken an gute Abende und Nächte.

Einmal – an einem dieser langen violett-rosa-grünlich-blass-blauen Juliabenden mit Licht im Nordwesten bis Mitternacht – kamen Rosmarie und ich in die Bar. Man konnte um 11.00 Uhr noch auf der Straße Zeitung lesen. Karlchen fragte oft: "Was hast Du denn heute Schönes gemacht?" Er wusste, dass ich täglich ein Bisschen skizziere. Kleine Einfälle, spontan oder draussen Gesehenes. An diesem Tag hatte ich Zeichnungen von Wolken gemacht. Am Strand sitzend  beobachtete ich an diesem Tag, der so klar war wie selten, die seltsam niedrig vorbeiziehenden Figuren, die mir in den Wolken erschienen. Ich zeigte Karlchen den Block über die Theke: Es waren Tiere, Menschen, Wesen, stelzende Figuren, Köpfe, die sich küssten, Mützen, eine liegende Große und eine. liegende Kleine u.s.f. Datum, Uhrzeit hinten auf dem Klappdeckel. Wir schlürften den ersten Planters, es war ein extra kräftiger Jamaika Rum daraufgelegt. Da sagte Karlchen, sich die Wolken ansehend, ganz plötzlich und er strahlte, blinzelte durch seine Augenschlitze, seine Backen glühten rot und er zeigte dabei seine kleinen Perlenzähnchenreihen: "Jaaaa!!! Die habe ich auch gesehen!"


Wir werden Karlchen nicht vergessen. Jeder, der ihm begegnet ist, trägt sein Bild im Kopf.

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Do

30

Sep

2021

Vorstellung Pit Morell Monografie im Worpswede Rathaus

Coronabedingt mit Verzögerung am 7. Oktober 2021 um 19 Uhr

Die Biografie "The Book of Humi, Leben und Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell" ist im Donat Verlag erschienen.

Den Text verfasste Dr. Bernd Küster, der an diesem Abend auch sprechen wird. Pit Morell liest einige Gedichte. Veranstaltungsort ist das Alte Rathaus Worpswede.

216 Seiten, 258 Abbildungen, Hardcover

ISBN: 978-3-949116-00-1 

Preis: 29.80 € 
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"Das alles betrachtend, würde man sich ein Buch über Pit Morell oder von ihm selbst wünschen, das noch nicht geschrieben worden ist – ein Gesamtkunstwerk (Bilder, Texte, Düfte, Musik!), in dem seine gesamte Lebensgeschichte und die Geschichte all seiner Träume als ein großes kunstvolles Gewebe ausgelegt wäre"
Hans-Christian Kirsch,1989

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Die Treppen zur Muschel
1979
Worpswede – Nachrichten aus dem Moor
1984
Kampen – Skizzen& Text
1979
Tschikeung 1963
Tschikeung 1963

Langspielplatte "Geht's Wasser?" von Pit Morell 1973

Lyrisches, Tagebuch-Aufzeichnungen und Anekdotisches. Es handelt sich um eine Platte, die mit den Original Radio-Bremen-Band hergestellt wurde. Die Lesung ging bereits 1964 on air.

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